Im Gespräch: Dr. Natalia Wege
Nach anfänglicher Freude über neu gewonnene Freizeit und der Möglichkeit Zeit für sich zu nutzen empfinden viele Menschen die Corona-Pandemie inzwischen als große vor allem psychische Belastung. Die Zahl der Menschen, die psyhcologische Hilfe suchen steigt rasant an. Frau Dr. Natalia Wege, Leitende Ärztin des Fachbereichs Psychosomatik, erläutert im Gespräch mit dem medicos.Magazin erste Warnsignale für psychosomatische Erkrankungen, wie diese Zustande kommen und welche Therapieangebote es geben kann. Außerdem gibt sie Tipps, wie ein jeder selbst etwas für seine geistige Gesundheit tun kann.
Frau Dr. Wege, über ein Jahr Pandemie. Was macht das mit uns?
N.W.: Die Pandemie ist eine große Belastung für die Psyche des Menschen. Viele Menschen fühlen sich direkt bedroht durch die Krankheit an sich, sie haben Angst vor einer Infektion. Aber auch die Angst, einen Angehörigen zu infizieren, ist bei vielen sehr groß. Mancher hat vielleicht sogar auch erleben müssen, dass ein Verwandter oder Bekannter schwer an einer Covid-19-Infektion erkrankt oder sogar verstorben ist. Das hinterlässt natürlich Spuren.
Außerdem nimmt bei vielen Menschen, vor allem Selbständigen, die finanzielle Not zu. Viele sind existentiell bedroht, weil sie ihr Geschäft oder Lokal schließen mussten oder aber wegen Kurzarbeit erheblich weniger verdienen. Sie haben Existenzängste und empfinden nachvollziehbarerweise großen psychischen Stress.
Aber auch die physischen Belastungen haben zugenommen. Eltern, die im Homeoffice arbeiten und zeitgleich ihre Kinder betreuen müssen haben eine deutlich erhöhte Last zu tragen, ohne dass sie richtige Erholungsphasen bekommen. Die Menschen müssen zurzeit ständig auf neue Gegebenheiten reagieren und sich neu anpassen. Hierfür braucht es Ressourcen, die bei vielen einfach in der Menge nicht mehr vorhanden sind.
Welche – psychischen und auch physischen – Auswirkungen hat das?
Die Ausgangsbeschränkung, Schließung von Gastronomie und Geschäften verdeutlichen uns immer mehr, dass wir in unseren freien Entscheidungen, wo wir beispielsweise hingehen oder was wir essen oder kaufen möchten, eingeschränkt werden. Und das steht im Gegensatz zu unserem Grundbedürfnis nach eigenen Entscheidungen und Autonomie. Es ist ganz normal, dass wir selbst die Kontrolle über unser Handeln haben möchten. Ich möchte selbst bestimmen, wen ich treffe, wie ich meinen Tag gestalte etc. Viele der aktuellen Regeln schränken dieses Bedürfnis stark ein, Kontrolle und Selbstbestimmung haben wir teilweise abgegeben. Das führt bei vielen zu Frustration, zu dauerhaftem Stress. Wir beobachten, dass Gefühlslagen wie Wut und Verbitterung zugenommen haben.
Durch die Schutzmaßnahmen wie beispielsweise das Tragen von Masken wird uns auch täglich die Gefahr vor Augen geführt, in der wir zurzeit leben. Das heißt also, man kann sich den Auswirkungen nicht entziehen, es sei denn, man zieht sich vollkommen zurück und stellt die Interaktion mit Menschen ein.
Aber auch körperliche Beschwerden können ein Zeichen von psychischer Überlastung sein. Viele Patienten klagen beispielsweise über Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden oder Beschwerden des Magen-Darm-Traktes.
Stimmen Sie mir zu, dass Familien mit Kindern in dieser Zeit einer besonderen Belastung ausgesetzt sind?
Das stimmt. In Familien, die möglicherweise noch auf engem Raum zusammenwohnen, steigt das Stressniveau auch sehr an. Man kann sich nicht mehr aus dem Weg gehen, hockt ständig zusammen. Kinder können sich nicht kindgerecht bewegen und auch mal auspowern. Das führt zu einer sehr angespannten Stimmung Zuhause. Wenn dann noch Homeoffice und Distanzunterricht als zusätzliche Belastungen in eine solche Atmosphäre kommen, eskaliert die Situation oft. Man wird laut und aggressiv. Da ist es schwierig, sich unter Kontrolle zu halten.
Alleinerziehende, vor allem Frauen sind laut einer aktuellen Studie übrigens besonders belastet. Sie tragen in großen Teilen die gesamte Last der finanziellen Verantwortung und der Versorgung der Kinder alleine. Weil gerade Frauen häufiger in den derzeit von Schließungen betroffenen Berufszweigen wie Friseur, Service oder andere körpernahe Dienstleistungen arbeiten, sind sie derzeit auch besonders belastet. Auch in der Pflege ist die Zahl der weiblichen Mitarbeiter relativ groß. Diese Berufsgruppe trägt derzeit eine ganz besonders große Last, wie man ja auch aus den Medien erfährt. Und das betrifft gar nicht einmal ausschließlich die Mitarbeiter von Intensivstationen. Auch die Pflege auf anderen Stationen hat sich nachhaltig verändert: Viele Pflegekräfte werden aus ihren gewohnten und bekannte Fachbereichen abgezogen, um Covid Patienten zu versorgen. Plötzlich sieht sich Pflegepersonal, das gar nicht über die entsprechende Ausbildung verfügt, mit schwierigen Verhältnissen konfrontiert. Das ist eine belastende Umstellung für viele.
Was ist mit Menschen, die bereits eine psychische Vorbelastung hatten?
Ja, in der Tat. Diese Personengruppe ist ganz besonders – wir sagen – vulnerabel, also anfällig. Ihnen fehlen oft die Ressourcen, um auf die ständig wechselnden Umstände und Gegebenheiten reagieren zu können. Auch hier beobachten wir einen Anstieg bei den Patientenzahlen.
Und die Kinder? Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf die Kinder und Jugendlichen?
Für die Kinder war und ist diese Zeit natürlich auch sehr belastend. Sie treffen keine anderen Kinder, können nicht in der Gruppe spielen und auf diese Weise ihre sozialen Fertigkeiten entwickeln. Es fanden wochen- und monatelang nahezu keine Freizeitaktivitäten statt. Gerade imWinter hat sich dann fast das ganze Leben im Haus oder der eigenen Wohnung abgespielt, weil das Wetter es nicht zuließ, dass man rausging. Aber nicht nur das winterliche Wetter hatte Einfluss auf die Tagesgestaltung der Kinder. Wir beobachten, dass – genau wie bei den Erwachsenen – die Motivation überhaupt etwas zu machen, massiv abgenommen hat. Die Kinder wurden träge. Im Vergleich zum ersten Lockdown hat die körperliche Aktivität draußen im Winter-Lockdown um rund 50% abgenommen. Dagegen hat sich die Mediennutzung gut verdoppelt. Hinzu kommt, dass viele Kinder gar nicht die Möglichkeiten haben, sich draußen auszupowern, weil sie beispielsweise keinen Garten haben oder weil die Infrastruktur in ihrem Wohnviertel nicht kindgerecht ist. Ganz besonders in sozial schwächeren Wohngegenden beobachten wir, dass die Kinder überhaupt keine Anlaufstellen haben, wenn Jugendhäuser oder Sportvereine geschlossen sind.
Aber Kinder brauchen den Sport und die Begegnung nicht nur, um körperlich fit zu sein und sich auszupowern. Im Kinder-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter ist es außerdem sehr wichtig, Anerkennung durch andere Menschen zu bekommen. Nur durch das Feedback der anderen entwickelt sich das eigene Selbstwertgefühl, das mich dann auch langfristig stärkt. Bekomme ich diese soziale Unterstützung nicht, dann fühle ich mich vielleicht nicht angenommen, unsicher und traue mir nicht so viel zu. Daher brauchen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unbedingt den Kontakt zu anderen.
Das sind ja massive Auswirkungen, die die Pandemie auf alle Teile der Bevölkerung haben kann. Was kann man denn nun selber tun, um Entspannung und vielleicht auch ein bisschen das Gleichgewicht zu finden?
Auch wenn es manchmal schwer fällt sollte man versuchen, auch weiterhin seine sozialen Netzwerke zu pflegen. Bei vielen hat eine Ermüdung zu telefonieren eingesetzt, aber es gibt ja auch andere Möglichkeiten in Kontakt zu bleiben. Über das Internet beispielsweise kann man Videochats nutzen. Aber auch einmal eine Postkarte schreiben ist eine Möglichkeit. Hiermit übermittelt man nicht nur pure Informationen, man drückt auch eine emotionale Verbindung und seine Zuneigung aus. Immerhin habe mir die Zeit genommen, die Karte auszusuchen und zu schreiben. Ähnlich ist es mit einem Brief.
Man kann sich auch einmal rückbesinnen, was man selbst als positiv und angenehm empfindet und sich dann dazu passend neue Beschäftigungen sucht. Das kann ein Buch lesen sein oder eine Fremdsprache lernen.
Für Erwachsene gilt aber auch ebenso wie für Kinder: Bewegung, Bewegung, Bewegung. Sport ist wichtig und gesund. Daher sollte man, wenn beispielsweise ein Mannschaftssport nicht stattfinden kann, trotzdem eigene Ziele definieren und versuchen, sich Zeit für Aktivität nehmen. Körperliche Bewegung reduziert Stress. Man hat sogar herausgefunden, dass Ausdauertraining ein guter Schutz vor Depressionen sein kann. Etwa 30min 3x/Woche reichen schon aus. Denn, wenn man weniger macht, dann hat man zwar keine Belastung, aber man hat auch keine positiven Erlebnisse, das hat Einfluss auf die Stimmung und langfristig eben auch auf das Selbstwertgefühl. Man zieht sich sozial zurück. Es ist eine Abwärtsspirale: man hat weniger Antrieb, man tut weniger für sich, die Stimmung wird schlechter und man hat dadurch noch weniger Antrieb. Dieser schleichende Prozess ist typisch in der Entwicklung von Depressionen.
Aber was mache ich, wenn ich feststelle, dass ich nicht mehr weiterweiß oder kann? Dass ich keinen Antrieb mehr habe?
Jeder darf mal „einen schlechten Tag“ haben. Das ist normal. Aber bestimmen meine Ängste den Alltag oder bin ich dauerhaft völlig antriebslos, müde, traurig, gefrustet? Habe ich dauerhaft Schmerzen? Oder trinke ich vielleicht bereits über einen längeren Zeitraum mehr Alkohol, bin ständig gereizt, spiele unverhältnismäßig viel PC-Spiele? Halten diese extremen Stimmungen länger als zwei bis drei Wochen durchgängig an, dann besteht Handlungsbedarf. Meine erste Anlaufstelle sollte der Hausarzt sein. Hier sollte ich meinen Zustand schildern und um Unterstützung bitten. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten der Hilfestellung.
Die da wären?
Besteht eine akute Gefahr für den Patienten etwa durch Selbstmordgedanken, dann ist sicher ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung notwendig. Aber so weit sollte es am besten gar nicht kommen. Strebt man eine Therapie an, muss man sich leider auf relativ lange Vorlaufzeiten gefasst machen. Niedergelassene Psychotherapeuten haben leider oft lange Wartelisten. Hat man bereits eindeutig behandlungsbedürftige Symptome, dann ist eine psychosomatische Rehabilitation eine gute Alternative. Diese kann man stationär durchführen oder – wie bei uns im medicos – auch ganztägig ambulant.
Eine sehr sinnvolle Maßnahme sind aber gerade Angebote, die auf die Prävention von psychischen Belastungsstörungen abzielen. Hier sind zum einen das Präventionsprogramm der Deutschen Rentenversicherung zu nennen und zum anderen das PAULI („Psychosomatik – Auffangen, Unterstützen, Leiten und Integrieren“)-Programm verschiedener Krankenkassen zu nennen. Das sind Programme, die relativ niederschwellig zu beantragen sind. Außerdem finden sie berufsbegleitend statt.
Wie muss ich mir eine Rehabilitation vorstellen? Welche Inhalte erwarten mich?
Wir legen großen Wert darauf, dass unsere Rehabilitanden lernen, wie ihre Krankheit entstehen konnte. Denn mit dem Verständnis ist auch verbunden, dass sie lernen, was sie selbst ändern oder dagegen tun können. Außerdem richten wir unser Augenmerk auf die Struktur des Alltags und erarbeiten gemeinsam Strategien, wie die Struktur stabil aufrechterhalten werden kann. Hierzu gehören auch ein gesunder Tag-Nacht-Rhythmus und geregelter Schlaf. Zudem üben wir soziale Interaktion, die gerade in der Zeit der Pandemie bei vielen Menschen zu kurz gekommen ist.
Wir legen viel Wert auf Sport. Es gibt wissenschaftliche Nachweise, dass sich beim Sport auch auf der biochemischen Ebene Prozesse entwickeln, die Anspannungen lockern und Stress reduzieren. Wir wollen erreichen, dass unsere Rehabilitanden Spaß an Sport und körperlicher Aktivität haben oder wieder zurückgewinnen.
Mit verschiedenen Angeboten, auch aus der Ergotherapie, unterstützen wir bei der Findung von Freizeitaktivitäten, die als angenehm und erfüllend empfunden werden. Mit diesen Aktivitäten bieten wir zugleich die Möglichkeit positive Erfahrungen zu machen.
Das Gespräch führte Nina Stiller-Peters am 14.05.2021